Unter dem Pseudonym Frank Tireur hat Berner 1940 in Schweden eine Broschüre im Verlag des syndikalistischen Jugendverbandes Sveriges Syndikalistiska Ungdomsförbundet (SUF) veröffentlicht, in der er seine Erfahrungen in Deutschland - mit einigen literarischen Fiktionen angereichert - für einen öffentlichen LeserInnenkreis aufarbeitete. Dieses lebendig geschriebene Dokument, das wohl als einer der wenigen authentischen Zeitzeugenberichte über den illegale Arbeit deutscher Libertärer gegen den Nationalsozialismus gelten kann, liegt nun erstmals als deutsche Übersetzung vor. Anschaulich, oft mit dem Ausdruck einer an religiöse Inbrunst erinnernder Emotionalität, wird darin die von Ängsten und Hoffnungen geprägte Ausnahmesituation der anarchosyndikalistischen Widerstandszirkel geschildert. Die informellen Beziehungsstrukturen dieses Systems lokaler Oppositionsmilieus bezeichnet Andreas Graf als Geflecht von "quasi familial orientierten Gruppenformationen", denen bereits "in der Weimarer Zeit eine hohe Integrationskraft" zukam (S.98). Ein derartiges Netz von überzeugten und handlungsbereiten AntfaschistInnen, die innerhalb enger Sozialbeziehungen auch überregional miteinander kooperierten, sollte sich als eine tragfähige Operationsbasis erweisen, das von den Polizeibehörden nicht ohne weiteres aufzudecken war.
Da die Publikation des Berichts den potentiellen Verfolgungsorganen eine Fülle von Details und Insiderkenntnissen vermitteln mußte, kamen der Verfasser und die Herausgeber zum Erscheinungszeitpunkt nicht umhin, aus Sicherheitsgründen einige Konzessionen bezüglich der Nennung von Personen und Orten zu machen. Um den faktischen Informationsgehalt von den fiktiven Einstreuungen der Schilderung unterscheiden zu können, haben sich die Herausgeber der deutschen Übersetzung, Andreas Graf und Dieter Nelles, verschiedener Quellen (Archivalien, Zeitzeugenberichte etc.) bedient und den Text mit einer ergänzenden Kommentierung versehen, die den tatsächlichen Ablauf der Reise erläutert und die realen Personen und die Orte der Ereignisse erschließen.
Dem Reisebericht vorangestellt haben die Herausgeber die Lebensgeschichte des Autors. Aufgewachsen in einer kinderreichen Kleinbauern- und Arbeiterfamilie im ländlichen Westschweden, erlernt Rudolf Berner (1907-1977) zunächst das Malerhandwerk. Aufgrund der Lektüre einer anarchistischen Zeitung kommt Berner 1931 als Schiffsmaler eher zufällig in Kontakt mit der libertären Bewegung. Schon bald darauf unternimmt er in der anarchosyndikalistischen Wochenzeitschrift "Arbetaren" und in dem anarchistischen Blatt "Brand" erste journalistische Versuche. Im Oktober 1931 übersiedelt Berner nach Stockholm und arbeitet als Redakteur des "Brand". Ende 1931 nimmt er als Delegierter des SUF am Berliner Kongreß der Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands (FKAD) teil, macht die Bekanntschaft mit einigen der exponierteren Genossen und GenossInnen der FAUD/FKAD und freundet sich mit dem Berliner Anarchisten Willi Boretti an. Nach Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges schickt ihn die anarchosyndikalistische Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC) nach Spanien, wo er für die Auslandsabteilung der Confédération National del Trabajo / Federación Anarquista Ibería (FAI) arbeitet und deren wöchentlichen Informationsdienst in schwedischer Sprache redigiert. In Barcelona trifft Berner die Mitglieder der Gruppe DAS, die ihn für die Idee der gefahrvollen Einreise nach Deutschland gewinnen. Dort angekommen gerät Berner im Rheinland beinahe in eine Verhaftungswelle der Gestapo. Obgleich sein Besuch von den verfolgten WiderständlerInnen als moralische Unterstützung empfunden wird, bleibt die Kontaktaufnahme jedoch ohne positive Wirkung: die Gestapo kann die Reststrukturen der illegalen Freien Arbeiter-Union Deutschlands 1937/38 nahezu vollständig zerstören, so daß die Verbindungen der IAA und der Gruppe DAS nach Deutschland abbrechen. Berner kehrt 1939, 1946 und 1958 wieder nach Spanien zurück, von wo er - illegal lebend - Artikel und Reportagen zur politischen Situation für verschiedene Zeitschriften schrieb. Sein Verhältnis zur libertären Bewegung ist zu diesem Zeitpunkt bereits ausgesprochen problematisch, da er anscheinend in den Spaltungskonflikt zwischen der Exil- und Inlandsleitung der CNT und deren Auseinandersetzungen mit der IAA und SAC geraten war.
Im zweiten Teil des Buches geben Andreas Graf und Dieter Nelles eine Zusammenfassung des Forschungsstandes und der Quellenlage über den Widerstand und das Exil deutscher Anarchisten und Anarchosyndikalisten bis zum Ende des 2. Weltkriegs. Aufgrund der Einbeziehung neuer Archivalien und der Berücksichtigung von ZeitzeugInnenaussagen reicht die Darstellung über den bislang erreichten Erkenntnisstand hinaus. Ausmaß und Stellenwert des libertären Widerstandes gewinnen dadurch sowohl im regionalen, als auch im internationalen Rahmen an forschungsrelevanten Konturen. Auch zur Verfolgungspraxis des nationalsozialistischen Staatsapparates und dem damit verbundenen Schicksal der am Widerstand beteiligten AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen werden neue Informationen vermittelt. Auf der Grundlage dieser faktengesicherten Studie wird nun erstmals eine konkrete Bewertung des bislang wenig beachteten Stellenwertes der anarchosyndikalistischen Aktivitäten im Gesamtkontext des antinationalsozialistischen Widerstands möglich. Die noch ausstehende sozialgeschichtliche Aufarbeitung des anarchosyndikalistischen Kampfes gegen den Nationalsozialismus und die weitere Erforschung des Exils wird sich auf diese profunde Darstellung stützen können. Noch zu erwähnen ist der umfangreiche Anhang des Buches, der eine detaillierte Quellen- und Literaturübersicht, ein Verzeichnis der Presse der anarchosyndikalistischen Widerstands- und Exilbewegung zwischen 1933 und 1945 (insgesamt 27 Titel) sowie ein Register der Personen, Organisationen und geographischen Namen beinhaltet. Darüber hinaus sind auf 16 Seiten insgesamt 33 Fotos, Zeitschriften- und Archivalienfaksimiles dokumentiert, die zum größten Teil bislang unveröffentlicht waren.
Aus: Libertäre Buchseiten, in: graswurzelrevolution, Nr. 222 (Oktober) 1997, S. 2