Auszug aus: Hartmut Rübner: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus. (c) Libertad Verlag Potsdam 1994. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich für EUR 25,00 unter ISBN-Nr.: 3-922226-21-3. [Zurück zur Inhaltsübersicht des Buches] 

3. Die Entwicklung der FAUD: Der Anspruch einer Gesellschaftstransformation und die Realität der gewerkschaftlichen Praxis

3. 2. Das anarchosyndikalistische Gewerkschaftsverständnis

Zu einer endgültigen theoretisch-programmatischen Grundlage des Anarchosyndikalismus kam es mit der auf dem Kongreß angenommenen Prinzipienerklärung, die von Rudolf Rocker (1) ausgearbeitet worden war. In der kontroversen Diskussion nach seinem Referat zur "Prinzipienerklärung des Syndikalismus" formulierte Rocker bezüglich der Konzeption der »Diktatur des Proletariats« eine eindeutige Grundsatzposition, welche die bis dahin unentschiedene Haltung der FVdG in dieser Frage klärte. In seiner Aussage verband er in diesem Punkt die Prinzipien des Anarchosyndikalismus mit einem grundsätzlichen Antiparlamentarismus und Antietatismus:
 
 
"Versteht man unter der Diktatur des Proletariats nichts anderes als das Ergreifen der Staatsgewalt durch eine gewisse Partei - und Diktatur ist stets Herrschaft einer Partei, niemals die Herrschaft einer Klasse -, so sind wir grundsätzlich Gegner der sogenannten proletarischen Diktatur, aus dem einfachsten Grunde, weil wir Gegner des Staates sind." (2) 

Die organisatorischen Bestandteile der für die Mitglieder der FAUD verbindlichen Richtlinien in dieser Grundsatzerklärung präzisieren in diesem Sinn nochmals die praktische Organisationsstruktur der FVdG, die bereits vor dem Krieg föderalistisch aufgebaut war. Die ideologischen Grundlagen der "Prinzipienerklärung des Syndikalismus" basieren weitgehend auf den Theorien des kommunistischen Anarchismus, wie er von Pjotr Kropotkin entwickelt worden war. Dessen soziokulturelle Vorstellungen treten in dem von Rocker formulierten Gewerkschaftsverständnis des Anarchosyndikalismus besonders deutlich hervor und gehen hier unverkennbar auf Kropotkins Schrift "Die gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" (3) zurück, dessen Verbindung von sozialer Ethik und anthropologischen Erkenntnissen charakteristisch ist:

  

Rudolf Rocker (1873-1958), einer der herausragenden   
Theoretiker des internationalen Anarchosyndikalismus

"Die gesellschaftliche Klassenteilung und der brutale Kampf 'aller gegen alle', diese charakteristischen Merkmale der kapitalistischen Ordnung, wirken in derselben Zeit auch degenerierend und verhängnisvoll auf den Charakter und das Moralempfinden der Menschen, indem sie die unschätzbaren Eigenschaften der gegenseitigen Hilfe und des solidarischen Zusammengehörigkeitsgefühls, jene kostbare Erbschaft, welche die Menschheit aus den früheren Perioden ihrer Entwicklung übernommen hat, in den Hintergrund drängen und durch krankhafte antisoziale Züge und Gewohnheiten ersetzen, die im Verbrechen, in der Prostitution und in allen anderen Erscheinungen der gesellschaftlichen Fäulnis ihren Ausdruck finden." (4)

Die unmittelbaren Aufgaben des Anarchosyndikalismus sollten dementgegen in der Funktion einer "praktischen Schule und Erziehungsstätte" liegen und somit in der Rekonstruktion der natürlichen Soziabilität ihrer Mitglieder bestehen. Der Stellenwert ökonomisch ausgerichteter Zielsetzungen einer nur-gewerkschaftlichen Vereinigung wurde allenthalben als "bloß eine Waffe für die Erringung besserer materieller Lebensbedingungen" für zweitrangig gehalten.(5) Die Notwendigkeit der Erziehung von klassen- und kulturbewußten Mitgliedern wird zum Hauptbestandteil einer antizipatorischen Gesellschaftsvorstellung, deren "Hauptaugenmerk der sozialistischen Erziehung sich auf die Entwicklung der administrativen Fähigkeiten in der Arbeiterklasse richten müsse, die sie allein in den Stand setzen können, die Reorganisation der Produktion und des Konsums auf sozialistischer Basis vorzubereiten und durchzuführen".(6)

Neben diesen gesellschaftsstrukturierenden Aspekten kommt der gegengesellschaftliche Anspruch einer anarchosyndikalistischen Kulturgemeinschaft hinzu, dessen Selbstverständnis aus einer soziokulturellen Betrachtungsweise resultiert, die sich wiederum aus dem Postulat von universell angelegten menschlichen Eigenschaften und Normvorstellungen wie Vernunft und Wahrheit ergibt. Diese ethischen Komponenten sind im anarchosyndikalistischen Gesellschaftsverständnis den Bedingungen eines relativen Wohlstandes untergeordnet, stellen jedoch gemäß ihrer Auffassung nicht das unbedingte Produkt eines materiellen Entwicklungsprozesses dar. Eine gesellschaftliche Weiterentwicklung im progressiven Sinne blieb damit an die Hebung des kulturellen Gesamtniveaus gebunden, wobei die Vorstellungen des anarchosyndikalistischen Kulturideals jedoch nicht soweit gingen, daß eine neue, proletarische Klassenkultur aus der Gewerkschaftsorganisation entstehen sollte, wie es beispielsweise konzeptionell im russischen 'Proletkult' angelegt war.(7) In Richtung der Vertreter einer separierten "proletarischen Klassenkultur" und "Arbeiter-Kunst" hieß es: "Wir wollen nicht den Unsinn wiederholen, der in dem Begriff wurzelt, daß die proletarische Kultur den höchsten Grad der Entwicklung darstellt oder das zunächst erstrebenswerte Ziel." (8)

Die Kulturvorstellungen waren innerhalb der FAUD in erster Linie auf die Aneignung des kulturellen Erbes ausgerichtet. Aus diesem Verständnis wurde nicht zwischen »bürgerlichen« und »proletarischen« Kulturausprägungen und Klassenzusammenhängen unterschieden:

"Dem Syndikalisten bedeutet Kultur allerdings etwas ganz anderes. Ihm bedeutet sie das Streben, all das, was in der Vergangenheit und Gegenwart an wirtschaftlicher und geistiger Arbeit von der Gesamtheit der Menschen hervorgebracht worden ist, allen Menschen zugänglich und nutzbar zu machen, so daß nicht mehr nur einzelne oder eine bestimmte Klasse, sondern alle ohne Ausnahme in gerechter Weise an all diesen materiellen und geistigen Schätzen teilhaben." (9)

Die evolutionär-anthropologischen Rückgriffe der anarchosyndikalistischen Theoretiker vernachlässigten die Erkenntnisse einer historisch-materialistischen Entwicklung, die das Primat einer revolutionären Umgestaltung an die Herausbildung der Produktivkräfte und die quantitative Ausbreitung des Proletariats bindet, denn man verstand sich "im eminentesten Sinne des Wortes [als] eine Kulturmacht".(10) In den Aussagen zur Frage des Bedeutungsgehalts humanistischer Kulturideale wird deutlich, daß in diesem Punkt einiges von Gustav Landauers Vorstellungen übernommen wurde. Landauer betrachtete die Geschichte der Menschheit weniger durch die Aufeinanderfolge verschiedener Produktionsweisen bestimmt, als vielmehr durch die davon unabhängigen Epochen der kulturellen Blüte der Völker geprägt. In solchen Zeiten gelte es, die im "Grunde der Gesellschaft" aufgespeicherte, "latente, genuin menschliche Kraft" wieder an "die Oberfläche der Gesellschaft zu holen".(11) Diese Anleihe auf eine kulturelle Authentizität und Identität eines humanistischen Gesellschaftspotentials beeinflußte im wesentlichen die ideologische Ausrichtung des Anarchosyndikalismus in den ersten Jahren nach der Gründung der FAUD.(12)

Mit der Prinzipienerklärung war indessen die Formierungsphase des Anarchosyndikalismus im Dezember 1919 abgeschlossen. Der organisatorische Aufbau, die theoretischen Grundlagen, die kulturellen Vorstellungen und die revolutionäre Strategie waren damit ebenso festgelegt wie die Abgrenzung zum Parlamentarismus und zu den daran festhaltenden Parteiorganisationen.(13)

[Fortsetzung Leseprobe: 11.1.3. Die anarchosyndikalistischen Frauenbünde]


Anmerkungen

(1) Rudolf Rocker (1873-1958) war von Beruf Buchbinder und trat der Mainzer Parteiopposition der »Jungen« bei und gilt als einer der Initiatoren der dortigen Fraktion der 'Unabhängigen'. Um seiner Verhaftung und dem Militärdienst zu entkommen, emigrierte er 1893 nach England, wo er in freundschaftlichem Kontakt zu Pjotr Kropotkin stand. Ohne selbst Jude zu sein, engagierte er sich in den ostjüdischen Anarchistenkreisen Londons und redigierte dort die Zeitung 'Der Arbeiterfreund', die in jiddischer Sprache erschien. Wegen seiner antimilitaristischen Propaganda wurde er 1914 interniert und kehrte erst nach dem Krieg nach Deutschland zurück. Rocker wurde zu dem einflußreichsten Theoretiker und Sprecher der FAUD. Sein kulturphilosophisches Hauptwerk "Die Entscheidung des Abendlandes" (Hamburg 1949) ist vor allem in den USA (wohin er 1933 emigrierte) über anarchistische Kreise hinaus bekannt geworden. Siehe zu Rocker besonders P. Wienand, Der »geborene« Rebell. Rudolf Rocker - Leben und Werk, Berlin 1981.

(2) R. Rocker im 'Protokoll über die Verhandlungen vom 12. Kongreß der FVdG', S. 55.

(3) P. Kropotkin, Die gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Leipzig 1908.

(4) R. Rocker, Prinzipienerklärung des Syndikalismus, S. 7.

(5) Siehe: R. Rocker, Der Kampf ums tägliche Brot, Berlin 1925. Reprint Frankfurt/M. 1975, S. 20.

(6) Ebd., S. 6.

(7) Zum russischen 'Proletkult' siehe: P. Gorsen u. E. Knödler-Bunte, Proletkult, Bd. 1, System einer proletarischen Kultur, Stuttgart 1974. Die Ideen des kulturradikalen Proletkults fanden eher in den rätekommunistisch beeinflußten Künstlerkreisen um Heinrich Vogeler und Franz Jung Eingang. Siehe dazu: H. M. Bock, Geschichte des »linken Radikalismus« in Deutschland, S. 95. Vom 'Proletkult' beeinflußt - jedoch mit sozialrevolutionär-rätekommunistischem Anspruch - gelten die 'Kölner Progressiven' der Gruppe um die Künstler Heinrich Hoerle, Franz W. Seiwert, Gerd Arntz (u. a.). Vgl. dazu: H. U. Bohnen, Das Gesetz der Welt ist die Änderung der Welt, Berlin 1976. Deren gegenständlich-konstruktivistischen Graphiken finden sich auch im 'Syndikalist' (ab 1932) und in der Büchergildenzeitschrift 'Besinnung und Aufbruch' (ab 1929).

(8) 'Die Schöpfung', 1. Jg. (1921), Nr. 23.

(9) F. Oerter: "Die Kulturideale des Syndikalismus", in: 'Der Syndikalist', 3. Jg. (1921), Nr. 14.

(10) Ebd.

(11) S. Fiedler, Die Gilde freiheitlicher Bücherfreunde, Staatsexamensarbeit, Bremen 1979, S. 23.

(12) Als eifrigster Propagandist dieser kultursozialistischen Linie in der FAUD kann Fritz Oerter gelten. Oerter (geb. 1869 in Fürth) war von Beruf Lithograph und Buchhändler. Vor dem Krieg war er bereits publizistisch im AFD-Organ 'Der freie Arbeiter' hervorgetreten und engagierte sich als einer der maßgeblichen Theoretiker der FAUD ebenfalls in der FKAD. Oerter starb 1935 im KZ Sachsenhausen.

(13) Zu einem verbindlichen Unvereinbarkeitsbeschluß kam es jedoch erst mit der auf dem 13. Kongreß der FAUD(S) im Oktober 1921 erweiterten Prinzipienerklärung.


Auszug aus: Hartmut Rübner: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus. (c) Libertad Verlag Potsdam 1994. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich für EUR 25,00 unter ISBN-Nr.: 3-922226-21-3. [Zurück zur Inhaltsübersicht des Buches]