Ja, das hat er sicherlich gedacht, und es quält mich, daß
ich nicht auch auf den Bahnsteig springen und aus vollem Halse schreien
kann: „Kamerad, ich bin unterwegs für die Sache der Revolution!“ Es
ist beinahe unerträglich, aber ich kann es nicht ändern.
Jetzt – die Grenze [Aachen]. Nervös fange ich an, meinen Koffer zu öffnen, schlage einen Skizzenblock auf und lasse eine Zeichnung von der Stadt der Kanäle zu oberst liegen. Eine große Pralinenschachtel stelle ich auf das Fenstertischlein und hoffe, daß so alles klar geht. Aber in mir nagt die Angst, wie alles ablaufen wird. Nach außen hin spiele ich natürlich den Überlegenen und Ruhigen, schlage die Beine übereinander und nehme tiefe Züge aus der Zigarette.
Mit einem Ruck bleibt der Zug stehen, und mein Hut fällt aus dem Gepäcknetz. Er rollt so lustig über den Wagenboden, daß ich lächeln muß. Der Hut hat eine besondere Geschichte hinter sich, er ist ein Künstlerhut, und unter normalen Verhältnissen würde ich niemals so einen Hut tragen. Jetzt aber gehört er zu meiner „Maskierung“. Ich spiele den Künstler und habe diesen Hut auch mitgenommen, damit man nicht wegen meiner ansonsten nicht gerade eleganten Kleidung auf mich aufmerksam wird. Diese Hutgeschichte ist übrigens das Verdienst einer Pariser Freundin [Mollie Steimer], denn sie hat mich erst auf diese Idee gebracht.
‘Der Hut steht mir tatsächlich gut’, denke ich und nehme diesen Gedanken als Beweis dafür, daß ich gar nicht so nervös bin, wie ich zu werden glaubte. Aber so ist es ja immer, man wird kalt, beinahe kaltschnäuzig, wenn man sich mit dem Ungewissen konfrontiert sieht. Und so werfe ich einen gleichgültigen Blick aus dem Coupéfenster: Ein schmutziges weißes Schild verkündet die erste Station im Reiche des großen Diktators.
Auf den ersten Blick scheint die Schrift aus Hieroglyphen zu bestehen, aber in der nächsten Sekunde ist das Gehirn darauf eingestellt, daß man im ganzen „Reich“ dieses altdeutsche Gekritzel verwendet. Dies ist durch Gesetz und Verordnung geregelt.
Bitte, meine Herrschaften, laut Gesetz …
Im Gang des Wagens ist das Getrampel von Stiefeln zu hören. Ein kleiner Bediensteter des Diktators in vollem Wichs drängelt sich grob durch die Coupétür und fängt an, in meinem Koffer herumzuwühlen. Dieses Intermezzo beunruhigt mich etwas, der Mann sagt nämlich kein Wort, zeigt nicht einmal eine Andeutung des gesetzlich vorgeschriebenen Grußes. Sich einfach so hereinzudrängeln wie ein Orang-Utan. Was bedeutet das?
Aber dann kommt ein anderer Beamter und verlangt nach meinem Paß. Gott sei Dank! Er hat zumindest soviel Verstand, mit dem Arm herumzufuchteln und etwas zu murmeln, das die Grußform des Reiches vorstellen soll.
Nun gut, jetzt muß ich also zur Valutakontrolle.
Wenig später. Hier gehe ich nun auf dem Bahnsteig und lache laut. Wer hätte das gedacht: Nicht eine einzige Frage, kein Erstaunen darüber, was gerade ich im Reiche zu tun hätte. Nichts, außer den gewöhnlichen Formalitäten. Sollte eventuell der Hut die Ursache sein? Oder meine blonden Haare? Auf jeden Fall trägt die Tatsache, daß man meine Stempel im Paß nicht näher kontrolliert hat, in hohem Maße dazu bei, daß ich hier gehe und laut lache. Was wäre wohl passiert, wenn sie meine französischen Grenzstempel gesehen hätten? Ich grinse demonstrativ und eiskalt, und das bewirkt, daß alle diese „Gib’ acht-Gesichter“ ihre militärischen Verdrehungen – ihr rechtsum! beziehungsweise linksum! – machen, auf mein dreistes Auftreten militärisch reagieren und Habt acht-Haltung annehmen.
Es sieht tatsächlich so aus, als ob ich der erste in diesem Jahr bin, der hier lacht. Das Lachen wirkt so deplaziert in dieser Umgebung. Nur ein Mädchen im Getränkekiosk beantwortet meine Munterkeit, ein schwaches Lächeln huscht über ihr helles Gesicht. Sie hat sicher einen Freund, an den sie denkt, vermute ich. Sonst würde sie bestimmt nicht so jugendlich lächeln.
(… laut Gesetz … das wären ja Zustände wie bei den Juden, wenn man zuließe, daß die schicksalsbestimmte Hab-acht-Mentalität der Nation durch ein heiteres Lächeln, durch herzhaftes Gelächter verpestet wird. Nein, der Führer verlangt ernsthafte Untertanen … laut Gesetz …)
Also, das Mädchen hat einen Freund, aber natürlich ist er in der SA oder in der HJ! Wie kann sie da lachen? Ist er vielleicht nicht in der SA? Irgendwo muß er doch organisiert sein, sonst würden Tränen aus ihren Augen leuchten und schwere Gedanken sich in ein gewisses Konzentrationslager schleppen. Nein, die Sache ist wohl die, daß ihr Verehrer auf der anderen Seite der Grenze wohnt. Ja, so muß es sein, auf der anderen Seite, nicht im schattigen Tal des Todes. Darum hat sie ihr jugendliches Lächeln noch nicht verloren.
„Bitte einsteigen!“
Es hört sich mehr nach einem gebrüllten Befehl an als nach einer freundlichen Aufforderung, und deshalb beeile ich mich, in mein Coupé zu kommen, sehe, daß meine Pralinenschachtel unberührt geblieben ist, und sende einen erleichterten Stoßseufzer zum Himmel. Und zusammen mit drei verhärmten alten Frauen setze ich meine Reise fort in die große Industriestadt X [Köln].
[Frts.: Besuch im Schlupfwinkel]