Auszug aus: Rudolf Berner: Die Unsichtbare Front. Bericht über die illegale Arbeit in Deutschland (1937). (c) Libertad Verlag Potsdam 1997. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich für 32.- DM unter ISBN-Nr.: 3-922226-23-X. [Zurück zur Inhaltsübersicht des Buches] 

Besuch im Schlupfwinkel

Na, sagen Sie bitte, wo kann man sich ein bißchen amüsieren an einem solchen Abend?"

Der Portier sieht mich mit einem müden Blick an und gibt mir die Zeitung mit einer Geste, die besagt: `Sieh gefälligst selbst nach, was die Annoncen anbieten, ich habe keine Lust, auch noch Ratschläge für irgendwelche Vergnügungen zu geben.'

Verdammt, ich muß herauskriegen, ob der Kerl neugierig ist. Versuchen wir es einmal damit: "Tja, also ich komme wahrscheinlich spät nach Hause, ich will nämlich ein Mädchen besuchen, hehehe. Vielleicht komme ich auch überhaupt nicht."

Mit tonloser Stimme antwortet der Portier mechanisch: "Das Hotel ist die ganze Nacht geöffnet."

Na, ein Glück, neugierig ist der Kerl jedenfalls nicht! Ich halte ihm ein Päckchen holländischer Zigaretten hin und sage: "Bitte, bedienen Sie sich."

Die Nasenlöcher des Mannes erweitern sich leicht, für einen Moment kommt etwas Leben in seine stumpfen Augen, und er erwidert: "Danke vielmals."

Na bitte, das läßt sich doch hören. Jetzt kann ich mit größerer Sicherheit zum Bahnhof schleichen und mit dem Nahverkehrszug in die Stadt Y [Wuppertal] fahren.

Wenn ich nur nicht all die Adressen, die ich in mein Gedächtnis eingeprägt habe, in meinem Kopf durcheinander bringe … Wie war das noch? Geradeaus eine Steigung, dann die zweite Querstraße rechts, und auf der linken Seite müßte dann die Klotzenstraße sein. Ganz richtig, da ist das Haus, und ein Namensschild bezeugt, daß hier der Korbmacher B. wohnt.

Ich klingle, und eine junge Frau öffnet. Sie schwankt offensichtlich zwischen dem Wunsch, die Tür sofort wieder zu schließen, und ihrer weiblichen Neugierde. Dieses Zögern nutze ich, um ihr zuzuflüstern: "Erika? Ich bringe Grüße von Theo."[1]

Ihre Augen werden starr wie Glaskugeln, ihre Pupillen scharf wie Nadeln, die sich in meine Augen bohren. Aber dann kommen die Tränen und mildern diesen sonderbaren Blick. "Aber bitte, komm doch herein. Um Himmels willen, wie bist du nur hierher gekommen? Ich hab von Theo nichts mehr gehört, seit er über die Grenze nach Holland ist."

Ich stehe in einer einfachen Küche, und alles kommt mir so bekannt vor, genauso wie Theo es beschrieben hatte. Und nachdem ich ihren Sohn begrüßt habe und er nach draußen zum Spielen geschickt worden ist, sagt Erika: "So, jetzt können wir reden. Du hast meinen Bruder getroffen? Du hast ihn vor kurzem gesehen?" Angst, Eifer und Hoffnung liegen in ihrer Stimme.

"Ja, vor zwei Wochen waren wir zusammen … Aber kann uns hier auch ganz bestimmt keiner belauschen?"

Sie schüttelt den Kopf.

"Nun denn. Ja, wie gesagt, vor zwei Wochen …"

"Wo ist er?" fällt sie mir ins Wort.

"Er ist dort unten".

Es wird ganz still. Ich hatte erwartet, sie würde seufzen und klagen, aber als Erika richtig begriffen hat, was ich gesagt habe und was die Worte dort unten bedeuten, sagt sie wie befreit: "Gott sei Dank! Theo ist dort unten! Ist er an der Front? Na, das kann ich mir ja denken, aber das bedeutet nichts. Sollte er fallen, dann weiß ich, daß er für die Freiheit gestorben ist. Und das ist ja immerhin besser, als in einem KZ zu Tode gefoltert zu werden. Kümmere dich nicht um meine Tränen, ich wein' ja bloß, weil ich so überrascht bin und so froh. Ach, wenn doch nur mein anderer Bruder auch in Spanien wäre. Heute habe ich einen Brief von ihm gekriegt, einen der üblichen Briefe aus dem KZ. Ach, wenn er nur wüßte, wo Theo jetzt ist, er würde so froh sein. Aber sag' mir ganz ehrlich: Kommst Du wirklich von dort unten?"

In ihren Augen liegt auf einmal etwas Erschrecktes und Mißtrauisches. Sie merkt es selbst und sagt entschuldigend: "Nimm's mir nicht übel, wenn du wüßtest, wie gerissen die Spitzel sind!"

"Hier, Erika, mach das Päckchen auf, dann hast du den Beweis."

Sie wickelt es aus dem Papier, öffnet den Deckel der Schachtel und sagt erstaunt: "Pralinen?"

"Ja, aber drunter …"

Sie holt eine Schale, schüttet die so schön geordneten Pralinen hinein und entfernt ein dünnes Seidenpapier auf dem Boden der Pralinenschachtel. Sie nimmt das kleine Foto, das da liegt. Es ist eine Amateuraufnahme von Theo, und auf der Rückseite hat er ein paar Zeilen geschrieben, die meine "Echtheit" bezeugen.

Erika fällt mir um den Hals. Ich lasse sie ausweinen, streichle ihr übers Haar und sage: "Nun weine doch nicht, Erika. Du mußt dieses Bild gut verstecken, ein paar Monate wenigstens. Keine Menschenseele darf wissen, daß ich hier gewesen bin, hörst du?"

"Ja, ach, du Lieber, Lieber - so darf ich dich doch nennen. Was du auch tust, sei bloß immer auf der Hut! Aber du mußt unbedingt den Brief von meinem Bruder Gustel lesen, damit du Theo davon berichten kannst. Hier nimm", sagt sie und zieht einen gefalteten und völlig zerknitterten Brief aus der Schürzentasche, der von Tränen feucht und von der Zensur beschmutzt ist.

Ich lese, stiere auf die schwarzen Tuschebalken der Zensur und kann einen ohnmächtigen Wutschrei nicht unterdrücken. Erika legt ihre Hand auf meine Stirn, und ich beruhige mich langsam wieder.

"Verstehst du jetzt, warum ich so froh bin, daß Theo jetzt da unten ist? Ihr müßt einfach siegen, hörst du? Dann kriegen vielleicht auch wir endlich unsere Freiheit zurück. Das ist unsere einzige Hoffnung."

"Der Kampf für die Freiheit wird weitergehen, auch wenn sie dort unten zur Zeit verlieren. Aber jetzt will ich noch eins wissen: Darfst du Gustel im KZ besuchen?"

"Ja, jetzt zu Ostern darf ich ihn besuchen. Wenn ich nur das Geld dafür hätte."

"Hm. Nun, grüß deinen Mann von Theo und von mir. Aber tu mir den Gefallen und warte einige Tage damit, und verplappere dich um Himmels willen nicht!"

Sie lächelt mich unter Tränen an: "Da kannst du ganz beruhigt sein, wir haben unsere Lektion gelernt."

Ich wage nicht, noch länger dazubleiben. Wir verabschieden uns mit einer Umarmung, und Erika küßt mich auf die Stirn. Ich schmuggle heimlich einen Zwanzigmarkschein in ihre Schürzentasche. Hoffentlich ist es genug für die Reise. "Auf Wiedersehen, Erika, in einem freien und menschlichen Deutschland!"

Damit verlasse ich die Wohnung und mache mich auf den Weg zum Bahnhof. Wie anders doch jetzt alles aussieht als noch vor einer knappen Stunde.

[Frts. Leseprobe: (Berner-Bericht:) Es liegt an uns!]


Auszug aus: Rudolf Berner: Die Unsichtbare Front. Bericht über die illegale Arbeit in Deutschland (1937). (c) Libertad Verlag Potsdam 1997. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich für 32.- DM unter ISBN-Nr.: 3-922226-23-X. [Zurück zur Inhaltsübersicht des Buches]