Auszug aus: Rudolf Berner: Die Unsichtbare Front. Bericht über die illegale Arbeit in Deutschland (1937). (c) Libertad Verlag Potsdam 1997. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich für 32.- DM unter ISBN-Nr.: 3-922226-23-X. [Zurück zur Inhaltsübersicht des Buches] 

Es liegt an uns !

Die Musik spielt. Es ist ein sogenannter langer Abend in einer Kneipe in der Nähe des Alexanderplatzes, im Scheunenviertel, dem "Verbrecherquartier". SA, Arbeitsdienstler, SS, verschiedene Sorten Polizei und andere Uniformierte mischen sich mit Zivilisten, die Hakenkreuz und Ehrenzeichen am Revers tragen. Es wird getanzt …

Mir gegenüber sitzt ein typischer Berliner der alten Sorte, einer von den Typen, die Heinrich Zille so gerne gezeichnet hat. Maxe ist ausgelassen und flirtet wie wild mit allen möglichen Frauenzimmern. Trotz allem muß ich lachen über all seine Verrücktheiten. Plötzlich packt er mich am Arm, zeigt in den Saal und grinst: "Menschenskind, is det nich `n nettet Weibsbild? Und watt für Beene!"

Die Frau, auf die er zeigt, harmoniert so gar nicht mit Maxes lebenslustiger Beschreibung. Sie ist eine ganz gewöhnliche Frau mit verschlissenen Kleidern und einem Gesicht, das von harter Arbeit gezeichnet ist. Eine erschöpfte Arbeiterfrau. Nein, Maxe, du hast wohl zu viel getrunken. Aber gut, wollen wir mal nicht so hart sein mit dir: Es ist dein erster Tag in relativer "Freiheit" nach drei Monaten Knast in Moabit. Drei Monate - nur weil du ein bißchen Krach hattest mit einem SA-Mann.

"Du, die wer' ick ma hier zu uns einladen!" beschließt Maxe und fängt ziemlich tolpatschig an zu winken und zu gestikulieren. Die Frau kommt tatsächlich zu uns rüber.

`Himmel, ist das möglich? Das ist ja Sara!' denke ich, als wir uns die Hand geben. "Haben wir uns nicht schon mal getroffen?" frage ich vorsichtig.

"Na klar habt ihr det", grinst Maxe anzüglich, "sseig ma eenen Kerl, der Sara nich kennt!"

"Sara Riecke?" flüstere ich.

Als Antwort nickt sie nur und fängt an, irgendein belangloses Zeug zu reden, und Maxe reibt sich die Hände. Eine Gruppe von SA-Leuten am Tisch nebenan schließt Wetten darüber ab, wer von uns beiden, Maxe oder ich, die "Nutte" wohl abschleppen wird. Maxe lallt, Sara schnattert, und ich winde mich wie ein Aal in der Schlinge. Endlich, Maxe will, daß ich ihn zur Toilette begleite!

Als wir drinnen sind, flüsterte er mir zu: "Tu ma so, als wenn se `n leichtet Meechen wär. Geh mit se nach Hause, un ick werd so tun, als wenn ick deshalb mordssauer uff dir bin. Klar? Aber du willst se unbedingt! Kapierste? Mensch Keule, du gloobst ja nich, wie herrlich `et is, wieder im Ring ssu stehn! Nach drei Monaten …". Maxe schweigt plötzlich, denn jetzt kommen andere in die Toilette, denen die Blase drückt.

So spielen wir also unsere kleine Szene, und Sara und ich ziehen Arm in Arm los. Hinter uns hören wir die anzüglichen Bemerkungen und das besoffene Gelächter … Maxe, der sucht sich andere "Kumpels", geht mit ihnen aufs Klo und flüstert ihnen gewisse Worte zu - SA und Gestapo lachen sich schlapp über "den Verrückten", weil sie nicht genug Hirn haben sich vorzustellen, daß solch einfache Leute so hervorragende Schauspieler sein können!
 

Illegales Treffen von FAUD-Mitgliedern in Berlin nach 1933 (vermutlich im Forst am Müggelsee).

Zu Hause sitzt Saras Mann. Dann kommt einer nach dem anderen, und bald ist die ganze Gruppe versammelt. Eben noch grölende Berliner in einer heruntergekommenen Bierschwemme, und jetzt nüchterne, sachliche und kampfbereite Genossen mit feurigen Herzen. 

Viele der Genossen sind alte Bekannte aus früheren Zeiten, als ich das Land besuchte und wir uns gemeinsam mit den Nazis anlegten, als wir uns heißdiskutierten mit Moskau-Agenten. Die Wiedersehensfreude vertreibt für einige Momente die Traurigkeit und die Gefahr. 


Es ist schon weit nach Mitternacht, als wir nach Hause gehen, bedrückt von bleischweren Gedanken. Es ist eine harte und traurige Arbeit, die wir jetzt gemacht haben! Aber sie mußte sein … Ein Gedanke schwirrt uns allen in den Köpfen: `Was wird Riecke mit ihm anstellen?'

Wir haben einen Genossen besucht, der die Verbindung hält zu Genossen in einem anderen Stadtteil. Gerade, als wir ihn wie immer informieren und mit ihm die Möglichkeiten einer Propaganda-Aktion diskutieren, über unterirdische Kanäle, in diesem Stadtteil, da -

- da kommt einer hereingestürzt und berichtet, daß sie drei andere Genossen verhaftet haben! Sie sind denunziert worden und werden angeklagt, Radio Luxemburg abgehört zu haben. Katastrophenstimmung breitet sich aus und senkt sich wie Blei über uns. Der Verbindungsmann wird ganz bleich, so merkwürdig. Er geht herum wie ein unseliger Geist und stöhnt nur. Einer flüstert das Wort: "Spitzel!", ein zweiter fügt hinzu "Verräter!". Eine Kälte des Hasses ergreift uns alle, die wir hier versammelt sind. Riecke springt auf, greift den Stöhnenden am Kragen und schüttelt ihn ordentlich: "Das warst du, du verdammter Schweinehund! Verräter! Mörder! Du Satan!"

Wir starren verwundert auf Riecke und den Mann in seiner Gewalt. Ist Riecke verrückt geworden? Sollte dieser unser Genosse ein Verräter sein?

Der so Beschuldigte sinkt in sich zusammen wie ein Haufen Lumpen, er kann keinen Ton zu seiner Verteidigung hervorbringen. Er stöhnt nur und weint. Riecke sagt, daß er ihn schon eine ganze Weile im Verdacht gehabt hätte. Alle wissen, daß ein Arbeitsloser, noch dazu einer, der als "Roter" verdächtigt wird, nicht einmal sein täglich Brot hat. Und dieser Mann hat in letzter Zeit nicht schlecht gelebt. Die Erklärung dafür kann nur eine sein: Ein Spitzel! Ein Denunziant! Die Nazis bezahlen solche Leute gut, wenn diese Leute es nur fordern.

Einer in unserem Kreise versucht, mildernde Umstände zu finden: "Es ist sicher seine Verlobte, die ihn dazu verleitet hat."

Und als hätte man eine Schleuse geöffnet, ergießt sich ein Wortschwall aus dem Munde des Beschuldigten: "Ja, ich bin es gewesen. Aber es war wegen Gretchen, sie wollte immer so vornehm sein. Sie wollte nichts wissen von so einem armen Teufel wie mir. Sie hat damit gedroht, sie würde mich verlassen, mich bei der Gestapo anzeigen, mich als Spion der `Kommune' hinter Gitter zu bringen. Sie sagte, daß es ihrem Bruder, der sich früher so begeistert für die `Kommune' engagiert hat, nun viel besser gehe, seit er zu den Nazis übergelaufen ist. Sie hat mich als verdammten Idioten beschimpft, der seine Chancen nicht wahrnehmen wolle. Sie hat gehöhnt, daß unsere ganze `Maulwurfsarbeit' völlig sinnlos sei, daß ich am Galgen enden würde, und daß ich ihr etwas vorgeheuchelt hätte, als ich sagte, daß ich sie liebe. Denn ich müsse doch begreifen, daß sie meinen Beteuerungen nicht glauben könne, solange ich nicht daran dächte, mir Arbeit zu beschaffen und ein Zuhause für uns einzurichten. Ich sollte meinen guten Willen zeigen und gleich der Arbeitsfront beitreten. Sie sagte, daß Hitler ein guter Mann sei und daß er nur denen gegenüber teuflisch wäre, die Deutschlands nationalen Wiederaufbau sabotierten … Sie schwor mir hoch und heilig, daß sie mich verlassen und mir die Hölle heiß machen würde, wenn ich nicht sofort täte, was sie will. Also habe ich die Gestapo auf eine Spur gesetzt. Ich dachte, so schlimm kann es ja nicht werden für die Genossen, nur weil sie Radio Luxemburg gehört haben …"

"Weiß diese verdammte Schlampe `was über deine Kontakte zu uns?" brüllt Riecke und schüttelt den Mann, als wäre er ein Wischlappen.

"Sie weiß nur, daß ich Verbindungen habe, aber nicht mit wem", jammert er und bricht zusammen, schluchzend wie ein Kind.

Die Genossen halten Kriegsrat. Ich wage nicht, ihren Worten zuzuhören. Das alles erschüttert mich zutiefst. Was sind dagegen die Tage an der Front! Lieber will ich ein Bombardement durchmachen als noch einmal eine solch furchtbare Stunde wie diese hier.

Jetzt haben die Genossen offenbar einen Entschluß gefaßt. Einer nach dem anderen verschwindet, und Riecke gibt mir Anweisung, zu seiner Frau zu gehen und dort auf ihn zu warten. Riecke bleibt allein zurück mit dem Verräter.

Der Hunger wühlt in meinen Gedärmen, aber schon bei dem Gedanken an Essen wird mir übel. In der Nähe eines Imbißstands, der Kartoffelpuffer anbietet, muß ich kotzen, allein schon wegen des Geruchs. Meine Beine sind schwer wie Blei, die Gedanken wiegen Zentner, Tonnen … .

Der Morgen dämmert langsam über der Stadt herauf, aber es ist, als würde die Natur lügen. Morgendämmerung? Ach wo! Finsterste Nacht ist es. Wird es in diesem Land überhaupt jemals eine Morgendämmerung geben?

"Mut, mein Junge!"

Ob es eine Morgendämmerung gibt, das liegt an uns, an dir und mir!

[Frts. Andreas G. Graf und Dieter Nelles: Widerstand und Exil deutscher Anarchisten und Anarchosyndikalisten (1933-1945)]


Auszug aus: Rudolf Berner: Die Unsichtbare Front. Bericht über die illegale Arbeit in Deutschland (1937). (c) Libertad Verlag Potsdam 1997. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich für 32.- DM unter ISBN-Nr.: 3-922226-23-X. [Zurück zur Inhaltsübersicht des Buches]