Manfred Burazerovic: Max Nettlau. Der lange Weg zur Freiheit 

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Aus dem VORWORT

Vorrangiges Ziel der vorliegenden Dissertation war es nicht, den Lebensweg Max Nettlaus chronologisch in allen Einzelheiten nachzuzeichnen und seine Aktivitäten innerhalb der anarchistischen Bewegung Europas zu schildern.

Nettlaus umfangreiche Memoiren bildeten die Basis für die Diskussion seiner Ideen und Überzeugungen als Beispiel einer sowohl individuellen als auch in einer langen Tradition stehenden Geisteshaltung. Ziel war es, die Innenansicht eines überzeugten und anerkannten, aber auch "aus der Art geschlagenen" Anarchisten zu vermitteln. Max Nettlau sollte sich selbst porträtieren, wobei der Entwicklungsprozeß und lange bestehende Kontinuitäten seiner Denkweise herausgearbeitet und dabei relativiert und Nettlaus eigener subjektiven Einschätzung entzogen werden sollten.

Nettlaus Thema war der Vergleich zwischen den libertären Überzeugungen und Zielsetzungen mit dem Alltagsleben der Menschen. Humane Zielsetzungen erhalten erst dann eine wirkliche Bedeutung, wenn das daran ausgerichtete Handeln eines Menschen eine Wirkung auf andere erzielt. Die Rezeption der sozialistischen Ideen beläßt es meist bei der immer wiederholten, sich selbstgenügenden, Erörterung theoretischer Konzeptionen. Die Beschäftigung mit den Umsetzungsversuchen des Sozialismus in den Lebensalltag ­ meist an Organisationen gebunden ­ setzt implizit eine a priori gesetzte Reduktion von Wirklichkeit voraus. Die zeitbezogene Bedeutung der anarchistischen Bewegung kann aus heutiger Sicht vernachlässigt werden, da der Anarchismus seinen Wert gerade nicht aus der Geschichte der mit dieser Idee verbundenen sozialen Bewegungen bezieht, sondern aus seinem Erkenntnispotential als Grundlage zur Veränderung der zu allen Zeiten und heute auch wieder in Europa zunehmend spürbaren sozialen Ungerechtigkeit. Deshalb werden in dieser Untersuchung Nettlaus Beziehungen zu anderen Anarchisten nicht als sich selbst genügend thematisiert. Zur näheren Begründung sei hier auf die Einleitung und die entsprechenden Kapitel verwiesen. Herauszuheben ist allerdings die Bedeutung, welche die Freundschaft mit Fritz Brupbacher für Nettlau hatte. Die gemeinsame über Jahre geführte Debatte ergab die Essenz der Lebenserfahrungen der beiden undogmatischen Sozialisten. Das Freilegen des Potentials dieses Erkenntnisprozesses kann als eigentliche Lebensleistung Nettlaus und Brupbachers verstanden werden.

Der Anarchismus im Sinne Nettlaus gibt entscheidende Hinweise, in welche Richtung und nach welchen Maßgaben eine wirkliche und nicht nur oberflächige Veränderung von Wirklichkeit angestrebt werden kann. Die von Max Nettlau formulierten einfachen und unspektakulären Einsichten werden bei den allermeisten Historikern und Sozialwissenschaftlern ein unverständiges Achselzucken hervorrufen. Seine Memoirentexte verbinden den wissenschaftlichen Hintergrund mit unprätentiösen Alltagsbeobachtungen ­ hierin liegen ihre Besonderheiten und auch ihr verborgener Wert. Ganz bewußt wird in dieser Untersuchung eine intensive Analyse der veröffentlichten Texte Nettlaus ausgespart, da Nettlau in seinen Memoiren sehr viel deutlicher und erkennbar einer Leitidee folgend formulierte. Ursprünglich war daran gedacht, die Memoirentexte noch stärker herauszustellen. Da jedoch bisher wenig über Nettlau publiziert wurde, war es unumgänglich, in konventioneller Weise die wichtigsten Lebensstationen im Hinblick auf seine Arbeit als Historiker der Bewegung nachzuzeichnen. Nettlaus Ansichten und Reaktionen auf den revolutionären Syndikalismus mußten beispielsweise in den entsprechenden Kontext gesetzt werden. Wiederholungen und die Rezeption bekannter Forschungsergebnisse sind als Teil einer Argumentationskette anzusehen. Angestrebt wurde eine inhaltliche Diskussion des Nettlauschen Anarchismus aus der heutigen Perspektive, wobei nicht der Eindruck entstehen sollte, daß es sich bei Nettlau um einen Theoretiker des Anarchismus handelte, der systematisch eine Lehrmeinung zu erarbeiten versuchte.

Nettlau forderte die Veränderung der Menschen im Alltag, in der Lebenswirklichkeit. Diese Veränderungen müssen die Menschen eigenverantwortlich um einen für Nettlau typischen Begriff vorwegzunehmen ­ umsetzen. An eine theoretische Konzeption angelehnte Handlungsanweisungen würden Nettlaus Denkansatz widersprechen. (...)

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