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Anarchismus
und Avantgardekunst stehen in einem ähnlich gearteten Spannungsverhältnis zur
heersehenden Ordnung und ihren kulturellen Werten. Die Übereinstimmungen
zwischen ihnen lassen sieh mit einer ,,strukturellen Homologie“ der sozialen
Felder ,,Politik“ und ,,Kunst“ begründen.[14]
Beide besitzen zwar eine relative Autonomie, indem sie eigene Institutionen
und Regelwerke ausbilden, unterliegen aber im gemeinsamen Zeitbezug denselben
gesellschaftlich wirksamen Mechanismen. Diese Grundlagen werden von Anarchismus
und Avantgardekunst in Frage gestellt. Mit einer Geste der Unbedingtheit
führen sie der auf Kompromißbildung bedachten bürgerlichen Gesellschaft deren
uneingelöste Ideale vor Augen.
Das
entscheidende Vergleichsmoment ist dabei die Forderung nach unbeschränkter
Freiheit des Individuums, welche vom Anarchismus auf der politischen Ebene
erhoben wird, und welche die Kunstschaffenden aufgrund ihrer Berufsrolle
stellvertretend für die Gesamtgesellschaft einlösen. In ihrem künstlerischen
Selbstverständnis von Freiheit und Autonomie sind glorifiziertes Genie und
stigmatisiertes Außenseitertum vereint.[15]
Der
Zusammenhang zwischen Anarchismus und Avantgardekunst ist ein charakteristisches
Merkmal der Moderne, das von der Forschung bisher kaum beachtet wurde. Da sich
in den letzten Jahren verstärkt ein Trend abzeichnete, die Rolle des
Spirituellen für die Herausbildung moderner Kunstkonzeptionen aufzuwerten[16],
scheint es angebracht, mit dem Anarchismus auch eine politische Dimension als
grundlegende Antriebskraft hervorzuheben. Ein Slogan wie ,,Die Geburt der
modernen Kunst aus dem Geist des Anarchismus“ würde sich anbieten, um für die
folgenden Kapitel zu werben. Wenn auf diesen Titel verzichtet wird, dann in
erster Linie wegen der darin enthaltenen Suggestion einer kausalen
Ableitungsmöglichkeit. Die historische Realität zeichnet sich demgegenüber eher
durch parallele Entwicklungen und ein Wechselspiel gegenseitiger
Beeinflussungen aus.
Mit der
vorliegenden Abhandlung wird eine der möglichen Schneisen durch den Wald der
Moderne geschlagen. Um nicht die Vielfalt der historischen Erscheinungen in
eine allzu lineare Geschichtskonstruktion zu zwingen, werden im folgenden drei
,,Momente“ ausgewählt, an deren Beispiel sich die verschiedenartigen
Beziehungen
zwischen Anarchismus und bildender Kunst besonders materialreich dokumentieren
lassen. Durch die Konzentration auf derartige ,,Lichtungen“, um im Sprachbild
zu bleiben, werden die Gefahren einer monographischen Analyse ebenso umgangen
wie diejenigen eines enzyklopädischen. Überblicks. Verschwindet der
Anarchismusbezug bei der erstgenannten Gattung in der Menge des darüber hinaus
zu berücksichtigenden Materials, so besitzt die zweite eine Tendenz zum
oberflächlichen Abhaken einzelner Personen und Bildwerke.[17]
Den Beginn
des Anarchismus als bewußter politischer Philosophie markiert das Erscheinen
von Pierre-Joseph Proudhons Schrift Was
ist das Eigentum? im Jahr 1340. Aus der Wahl dieses Datums als Beginn des
Untersuchungszeitraums folgt, daß theoretische Vorläufer wie William Godwin
hier ebensowenig behandelt werden können wie die in künstlerischer Hinsicht
wegweisende Romantik, obwohl es zwischen beiden enge Verbindungslinien gibt.[18]
Im ersten
Kapitel wird sich die folgende Studie mit dem Maler Gustave Courbet befassen
und versuchen, vor dem Hintergrund der engen Freundschaft mit Proudhon seine
Handlungsweise im Jahr 1855 zu deuten, als er eine eigene Gegenausstellung zur
offiziellen Pariser Weltausstellung organisiert und dafür das programmatische
,,Atelierbild“ malt.
Der zweite
Teil behandelt Verflechtungen zwischen neo-impressionistischen Künstlerkreisen
und anarchistischen Gruppen in Paris, die 1894 zur Verhaftung des Malers
Maximilien Luce und des Kunstkritikers Felix Fendon führen.
Den dritten
Schwerpunkt bildet die Beschäftigung von Dadakünstlern wie Raoul Hausmann und
Johannes Baader in Berlin 1919 mit dem Individualanarchismus.
Mit der
Neuordnung Europas nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Abdanken des
deutschen Kaisertums und dem Aufstieg des Kommunismus zur Regierungsmacht in
der Russischen Revolution findet eine drastische Verschiebung der politischen
Gewichte statt, die es erlaubt, den Untersuchungsrahmen mit dem Jahr 1920
abzuschließen, auch wenn der innere Zusammenhang zwischen Anarchismus und moderner
Kunst danach weiter besteht.
Der Zeitraum
zwischen der Französischen Revolution und dem Ende des Ersten Weltkriegs wird
hier als eine Epoche aufgefaßt, in der sich das intellektuell-künstlerische
und das politische Kräftefeld gleichermaßen ausdifferenzieren, d.h. ihre
eigenen
Regelstrukturen herausbilden.[19]
Dazu zählt, daß es auf beiden Feldern radikale Oppositionsgruppen gibt,
die wie im Falle der Anarchisten und der Avantgardekünstler eine Art
historische Wahlverwandtschaft ausbilden. Das Bewußtsein über diesen
Sachverhalt kann punktuell aufblitzen oder von längerer Dauer sein, es kann
angenommen, verdrängt oder abgelehnt werden.
Zentrales
Anliegen dieser Arbeit ist es, den behaupteten Zusammenhang anhand dreier
Beispiele zu belegen. Bei der Ausbreitung des Materials steht die Absicht im
Vordergrund, möglichst viel verstreute Text- und Bildquellen zusammenzutragen,
um die Hauptthese zu stützen, das Thema als wissenschaftlich lohnendes
Forschungsgebiet
zu etablieren und systematisch orientierten Analysen vorzuarbeiten. Die
Ansprüche, welche anarchistische Theoretiker an die bildenden Künste stellen,
werden ebenso erläutert wie die weltanschaulichen Positionen der ausgewählten
Künstlerpersönlichkeiten. Der Bereich zu behandelnder Darstellungen wird über
die sogenannte ,,Hochkunst“ hinaus auf jegliches Bildmaterial ausgedehnt.[20]
Entscheidende Texte, die bisher nicht zugänglich, übersetzt oder
bearbeitet waren, sind in vollständigem Wortlaut angeführt, um Konstanzen und
Bruchlinien in der Argumentation zu verfolgen. Aus diesem Grund und um der
besseren Lesbarkeit willen werden im Haupttext nur die Primärquellen zitiert,
die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur findet in den Anmerkungen
statt.
[14] Dieses soziologische Konzept entwickelt
Bourdieu [1970], Ausg. 1974, S. 29
f., S. 36, S. 47 f. und S. 115. Es
geht im folgenden aber um realgeschichtliche Zusammenhänge und nicht, wie bei
Francis Haskell, Die Kunst und die
Sprache der Politik [1 974], in: Haskell 1990, S. 122 -138, um politische Metaphorik in der Kunstbeurteilung.
[15] Zur Herausbildung der Vorstellungen vom
Künstlertum vgl. Kris / Kurz [1934],
Ausg. 1980 und Neumann 1986, zur historischen Realisierung im jeweiligen
sozialen Kontext Warnke 1985 und Wittkower [1963], 2. dt. Aufl. 1989.
[16] Werner Hofmann, Die Geburt der Moderne
aus dem Geist der Religion, in: Hamburg 1983/84, S. 23 - 71 bezieht seine
Ableitung auf die offiziellen innerkirchlichen Diskurse. Die mystisch-esoterische
Dimension dieses Interpretationsstranges behandelt dagegen zusammenfassend
Maurice Tuchman, Verborgene Bedeutungen
in der abstrakten Kunst, in: Los Angeles 1986, S. 17 - 61. Vgl. dazu auch
Wyss 1993.
[17] Deutlich beispielsweise bei Egbert 1970.
[18] Godwins 1791 verfaßter Text An Inquiery Concerning Political Justice erscheint
erstmals 1793. Eine
Darstellung seiner wichtigsten Gedanken bringt Clark 1977, zur Biographie vgl.
Marshall 1984. Godwin beeinflußt sowohl Maler wie Johann
Heinrich Füßli und William Blake (dazu Schiff 1986 und Marshall 1988), als auch
Literaten wie Percy Bysshe Shelley (dazu Scrivener 1982). Zu den
Anarchiebezügen der Romantik vgl. Hofmann 1956 und Sedlmeyr 1978 sowie (auf den
Chaosbegriff beschränkt) Mathy 1984.
[19] Innerhalb der Kunstgeschichte
ist das erste Datum dieser Periodisierung spätestens seit der 1974 begonnenen
Ausstellungsreihe Kunst um 1800 in
der Hamburger Kunsthalle etabliert und durch das Funkkolleg Moderne Kunst kanonisiert, vgl. Wagner 1991.
[20] ,,Alles Bildschaffen“ rechnet bereits
Warburg 1920, S. 4 zum Beobachtungsgebiet des Faches Kunstgeschichte, und er
hält besonders die gründliche historische Betrachtung der ,,Gebilde aus der
halbdunklen Region geistespolitischer Tendenzliteratur“ für aufschlußreich.