Auszug aus: Dieter Scholz: Pinsel und Dolch. Anarchistische Ideen in Kunst und Kunsttheorie 1840 - 1920. - Berlin: Reimer, 1999. 477 S. Im Buchhandel erhältlich für 78.-DM unter ISBN-Nr.: 3-496-01199-8. [Zurück zur Inhaltsübersicht des Buches] 

Thesen und Methode

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Anarchismus und Avantgardekunst stehen in einem ähnlich gearteten Spannungsverhältnis zur heersehenden Ordnung und ihren kulturellen Werten. Die Übereinstimmungen zwischen ihnen lassen sieh mit einer ,,strukturellen Homologie“ der sozialen Felder ,,Politik“ und ,,Kunst“ begründen.[14] Beide besitzen zwar eine relative Autonomie, indem sie eigene Institutionen und Regelwerke ausbilden, unterliegen aber im gemeinsamen Zeitbezug denselben gesellschaftlich wirksamen Mechanismen. Diese Grundlagen werden von Anarchismus und Avantgardekunst in Frage gestellt. Mit einer Geste der Unbedingtheit führen sie der auf Kompromißbildung bedachten bürgerlichen Gesellschaft deren uneingelöste Ideale vor Augen.

Das entscheidende Vergleichsmoment ist dabei die Forderung nach unbeschränkter Freiheit des Individuums, welche vom Anarchismus auf der politischen Ebene erhoben wird, und welche die Kunstschaffenden aufgrund ihrer Berufsrolle stellvertretend für die Gesamtgesellschaft einlösen. In ihrem künstlerischen Selbstverständnis von Freiheit und Autonomie sind glorifiziertes Genie und stigmatisiertes Außenseitertum vereint.[15]

Der Zusammenhang zwischen Anarchismus und Avantgardekunst ist ein charakteristisches Merkmal der Moderne, das von der Forschung bisher kaum beachtet wurde. Da sich in den letzten Jahren verstärkt ein Trend abzeichnete, die Rolle des Spirituellen für die Herausbildung moderner Kunstkonzeptionen aufzuwerten[16], scheint es angebracht, mit dem Anarchismus auch eine politische Dimension als grundlegende Antriebskraft hervorzuheben. Ein Slogan wie ,,Die Geburt der modernen Kunst aus dem Geist des Anarchismus“ würde sich anbieten, um für die folgenden Kapitel zu werben. Wenn auf diesen Titel verzichtet wird, dann in erster Linie wegen der darin enthaltenen Suggestion einer kausalen Ableitungsmöglichkeit. Die historische Realität zeichnet sich demgegenüber eher durch parallele Entwicklungen und ein Wechselspiel gegenseitiger Beeinflussungen aus.

Mit der vorliegenden Abhandlung wird eine der möglichen Schneisen durch den Wald der Moderne geschlagen. Um nicht die Vielfalt der historischen Erscheinungen in eine allzu lineare Geschichtskonstruktion zu zwingen, werden im folgenden drei ,,Momente“ ausgewählt, an deren Beispiel sich die verschiedenartigen Beziehungen zwischen Anarchismus und bildender Kunst besonders materialreich dokumentieren lassen. Durch die Konzentration auf derartige ,,Lichtungen“, um im Sprachbild zu bleiben, werden die Gefahren einer monographischen Analyse ebenso umgangen wie diejenigen eines enzyklopädischen. Überblicks. Verschwindet der Anarchismusbezug bei der erstgenannten Gattung in der Menge des darüber hinaus zu berücksichtigenden Materials, so besitzt die zweite eine Tendenz zum oberflächlichen Abhaken einzelner Personen und Bildwerke.[17]

Den Beginn des Anarchismus als bewußter politischer Philosophie markiert das Erscheinen von Pierre-Joseph Proudhons Schrift Was ist das Eigentum? im Jahr 1340. Aus der Wahl dieses Datums als Beginn des Untersuchungszeitraums folgt, daß theoretische Vorläufer wie William Godwin hier ebensowenig behandelt werden können wie die in künstlerischer Hinsicht wegweisende Romantik, obwohl es zwischen beiden enge Verbindungslinien gibt.[18]

Im ersten Kapitel wird sich die folgende Studie mit dem Maler Gustave Courbet befassen und versuchen, vor dem Hintergrund der engen Freundschaft mit Proudhon seine Handlungsweise im Jahr 1855 zu deuten, als er eine eigene Gegenausstellung zur offiziellen Pariser Weltausstellung organisiert und dafür das programmatische ,,Atelierbild“ malt.

Der zweite Teil behandelt Verflechtungen zwischen neo-impressionistischen Künstlerkreisen und anarchistischen Gruppen in Paris, die 1894 zur Verhaftung des Malers Maximilien Luce und des Kunstkritikers Felix Fendon führen.

Den dritten Schwerpunkt bildet die Beschäftigung von Dadakünstlern wie Raoul Hausmann und Johannes Baader in Berlin 1919 mit dem Individualanarchismus.

Mit der Neuordnung Europas nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Abdanken des deutschen Kaisertums und dem Aufstieg des Kommunismus zur Regierungsmacht in der Russischen Revolution findet eine drastische Verschiebung der politischen Gewichte statt, die es erlaubt, den Untersuchungsrahmen mit dem Jahr 1920 abzuschließen, auch wenn der innere Zusammenhang zwischen Anarchismus und moderner Kunst danach weiter besteht.

Der Zeitraum zwischen der Französischen Revolution und dem Ende des Ersten Weltkriegs wird hier als eine Epoche aufgefaßt, in der sich das intellektuell-künstlerische und das politische Kräftefeld gleichermaßen ausdifferenzieren, d.h. ihre eigenen Regelstrukturen herausbilden.[19] Dazu zählt, daß es auf beiden Feldern radikale Oppositionsgruppen gibt, die wie im Falle der Anarchisten und der Avantgardekünstler eine Art historische Wahlverwandtschaft ausbilden. Das Bewußtsein über diesen Sachverhalt kann punktuell aufblitzen oder von längerer Dauer sein, es kann angenommen, verdrängt oder abgelehnt werden.

Zentrales Anliegen dieser Arbeit ist es, den behaupteten Zusammenhang anhand dreier Beispiele zu belegen. Bei der Ausbreitung des Materials steht die Absicht im Vordergrund, möglichst viel verstreute Text- und Bildquellen zusammenzutragen, um die Hauptthese zu stützen, das Thema als wissenschaftlich lohnendes Forschungsgebiet zu etablieren und systematisch orientierten Analysen vorzuarbeiten. Die Ansprüche, welche anarchistische Theoretiker an die bildenden Künste stellen, werden ebenso erläutert wie die weltanschaulichen Positionen der ausgewählten Künstlerpersönlichkeiten. Der Bereich zu behandelnder Darstellungen wird über die sogenannte ,,Hochkunst“ hinaus auf jegliches Bildmaterial ausgedehnt.[20] Entscheidende Texte, die bisher nicht zugänglich, übersetzt oder bearbeitet waren, sind in vollständigem Wortlaut angeführt, um Konstanzen und Bruchlinien in der Argumentation zu verfolgen. Aus diesem Grund und um der besseren Lesbarkeit willen werden im Haupttext nur die Primärquellen zitiert, die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur findet in den Anmerkungen statt.


[14] Dieses soziologische Konzept entwickelt Bourdieu [1970], Ausg. 1974, S. 29 f., S. 36, S. 47 f. und S. 115. Es geht im folgenden aber um realgeschichtliche Zusammenhänge und nicht, wie bei Francis Haskell, Die Kunst und die Sprache der Politik [1 974], in: Haskell 1990, S. 122 -138, um politische Metaphorik in der Kunstbeurteilung.

[15] Zur Herausbildung der Vorstellungen vom Künstlertum vgl. Kris / Kurz [1934], Ausg. 1980 und Neumann 1986, zur historischen Realisierung im jeweiligen sozialen Kontext Warnke 1985 und Wittkower [1963], 2. dt. Aufl. 1989.

[16] Werner Hofmann, Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion, in: Hamburg 1983/84, S. 23 - 71 bezieht seine Ableitung auf die offiziellen innerkirchlichen Diskurse. Die mystisch-esoterische Dimension dieses Interpretationsstranges behandelt dagegen zusammenfassend Maurice Tuchman, Verborgene Bedeutungen in der abstrakten Kunst, in: Los Angeles 1986, S. 17 - 61. Vgl. dazu auch Wyss 1993.

[17] Deutlich beispielsweise bei Egbert 1970.

[18] Godwins 1791 verfaßter Text An Inquiery Concerning Political Justice erscheint erstmals 1793. Eine Darstellung seiner wichtigsten Gedanken bringt Clark 1977, zur Biographie vgl. Marshall 1984. Godwin beeinflußt sowohl Maler wie Johann Heinrich Füßli und William Blake (dazu Schiff 1986 und Marshall 1988), als auch Literaten wie Percy Bysshe Shelley (dazu Scrivener 1982). Zu den Anarchiebezügen der Romantik vgl. Hofmann 1956 und Sedlmeyr 1978 sowie (auf den Chaosbegriff beschränkt) Mathy 1984.

[19] Innerhalb der Kunstgeschichte ist das erste Datum dieser Periodisierung spätestens seit der 1974 begonnenen Ausstellungsreihe Kunst um 1800 in der Hamburger Kunsthalle etabliert und durch das Funkkolleg Moderne Kunst kanonisiert, vgl. Wagner 1991.

[20] ,,Alles Bildschaffen“ rechnet bereits Warburg 1920, S. 4 zum Beobachtungsgebiet des Faches Kunstgeschichte, und er hält besonders die gründliche historische Betrachtung der ,,Gebilde aus der halbdunklen Region geistespolitischer Tendenzliteratur“ für aufschlußreich.


Auszug aus: Dieter Scholz: Pinsel und Dolch. Anarchistische Ideen in Kunst und Kunsttheorie 1840 - 1920. - Berlin: Reimer, 1999. 477 S. Im Buchhandel erhältlich für 78.-DM unter ISBN-Nr.: 3-496-01199-8. [Zurück zur Inhaltsübersicht des Buches]