Auszug aus: Hartmut Rübner: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus. (c) Libertad Verlag Potsdam 1994. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich für EUR 25,00 unter ISBN-Nr.: 3-922226-21-3. [Zurück zur Inhaltsübersicht des Buches] 

3. Die Entwicklung der FAUD: Der Anspruch einer Gesellschaftstransformation und die Realität der gewerkschaftlichen Praxis

3. 1. Die Rekonstituierung der 'Freien Vereinigung'

Die FVdG war unmittelbar nach Ausbruch des Krieges aufgrund ihrer antimilitaristischen Propaganda als staatsfeindliche Organisation verboten worden. Nachdem der 'Pionier' und die 'Einigkeit' als Verbandsorgane weggefallen waren, wurde bis 1917 ein Mitteilungsblatt und ein periodisches Rundschreiben aufgelegt, das den Minimalkontakt des sich nun bedeckt gebenden 'Allgemeinen Arbeitervereins' als Fortführung der FVdG aufrechterhielt. Neben den Bezirken Groß-Berlins, in denen die Syndikalisten weiterhin innerhalb eines 'Gewerkschaftskartells' aktiv bleiben konnten, hielt die FVdG in 18 Ortsgruppen regelmäßig Veranstaltungen ab.(1)
 
 
Ein entscheidender Anteil bei der Reorganisation der 'Freien Vereinigung' kam dem ehemaligen Geschäftsführer der FVdG in Berlin - Fritz Kater - und dem führenden Funktionär der AFRW und FVdG im Rheinland - Carl Windhoff - zu, da sie die noch vorhandenen Reste der Organisation in diesen Regionen koordinierten. Aus dieser Initiative heraus ergab sich die organisatorische Grundlage, die, ausgehend von den ehemaligen Zentren Düsseldorf und Berlin, den überraschend rasant verlaufenden Aufschwung der Bewegung einleitete. Die erste Phase des Reformierungsprozesses war bereits mit der Herausgabe des 'Syndikalist' am 14. Dezember 1918 abgeschlossen, der an die Stelle des Vorkriegsorgans 'Die Einigkeit' trat. Auf dem ersten, von Kater initiierten Treffen der Syndikalisten waren 33 Delegierte aus 43 Ortsvereinen vertreten, die sich geschlossen gegen eine Beteiligung an der Nationalversammlung und gegen eine Mitarbeit in den Zentralgewerkschaften aussprachen. Nicht ohne Stolz wurde hier vermerkt, daß die 'Freie Vereinigung' die einzige Arbeiterorganisation sei, "deren Vertreter und Organe nicht umzulernen brauchten" (2)

Der Syndikalist, das Organ der FAUD. 


In der Tat stellte die FVdG zu diesem Zeitpunkt die einzige organisatorische Alternative für den Teil der Arbeiterschaft dar, der - desillusioniert von der Politik der etablierten Parteien - sich einer radikalen Gewerkschaft verbunden fühlte. Die gemeinsame Motivationslage innerhalb der »neuen« Bewegung lassen Rückschlüsse auf ein allgemein anzutreffendes Persönlichkeitsprofil der beteiligten Individuen zu:

"Anhänger [der anarchosyndikalistischen Bewegung, d. Verf.] rekrutierten sich allgemein aus reinen »Suchern« wie auch aus den von der Politik Enttäuschten - ihre Prägung hatten sie durch Krieg, Revolution und nachrevolutionäre Welle erfahren. Es muß sich um Arbeiter gehandelt haben, die des Parteienhaders und einer engen Organisationsbindung überdrüssig waren und von einer Fortsetzung der Revolution träumten, welche auch ihrer eigenen Existenz eine neue Sinnfüllung geben könnte." (3)

Zeitgenössische Beobachter ordneten den Syndikalismus in der Anfangsphase der FAUD(S) gar den damals verbreiteten "mystischen Strömungen" zu und glaubten sich an "eine Parallele zu der religiösen Bewegung des Urchristentums" erinnert.(4)

Wenn im Dezember 1919 auf der Konferenz der FVdG dazu aufgerufen wurde, sich den linksstehenden Parteien anzuschließen, ist darin noch kein Widerspruch zu syndikalistischen Grundsätzen auszumachen, zumal es in der 'Freien Vereinigung' nach dem Parteiausschluß zu keiner ideologisch-programmatischen Neuorientierung gekommen war.(5)

Ebenso wie auch für die revolutionär-syndikalistischen Organisationen anderer Länder bot bis dahin die bolschewistische Revolution in Rußland für die deutschen Anarchosyndikalisten eine Identifikationsmöglichkeit und eine revolutionäre Perspektive im internationalen Maßstab. Denn wie die Anarchosyndikalisten lehnten die Bolschewisten nationalstaatliche Auseinandersetzungen ab und drängten auf einen organisierten internationalen Klassenkampf. In ihrer Ablehnung der Sozialdemokratie und der 2. Internationale als reformistisch ergab sich ein weiterer gemeinsamer Standpunkt beider Bewegungen.(6) Nicht zuletzt Lenins Schrift "Staat und Revolution" besaß zeitweise für die Anarchosyndikalisten in Deutschland - trotz all ihrer Seitenhiebe gegen den Anarchismus - eine gewisse Attraktivität. Denn die Passagen über die rätekommunistische Arbeiterkontrolle und -selbstverwaltung wurden nicht nur als antiparlamentarisch, sondern auch als antietatistisch gelesen.(7)

Das von Karl Roche (8) erst im Frühjahr 1919 formulierte Programm der FVdG diente bis zur endgültigen Prinzipienerklärung als Orientierungs- und Agitationsbroschüre. In dieser Schrift wird die Bedeutung der politischen Parteien und bürgerlichen Parlamente für den "proletarischen Klassenkampf" als "hindernd" und in der Wirkung als "verwirrend" eingeschätzt (9), womit der Unterschied zwischen ökonomischer und politischer Macht ausgesprochen wird. Neben weiteren, bereits eindeutig anarchosyndikalistischen Vorstellungen und Prinzipien erkennt Roche hier die »Diktatur des Proletariats« an, was einerseits auf eine Unkenntnis der realen sowjet-russischen Machtverhältnisse und andererseits als eine Konzession an die KPD(S) und die unionistischen Gewerkschaftsbewegungen gewertet werden könnte.(10) Dieses Zugeständnis (11) war sehr wahrscheinlich auch mit der Hoffnung verbunden, daß abseits von allen programmatischen Differenzen eine Zusammenarbeit auf der Grundlage der Arbeiterräte möglich sei.(12) Die Annahme, daß eine Aktionseinheit mit den linksorientierten Parteien möglich sein könnte, offenbarte sich jedoch schon bald als eine Fehleinschätzung, denn die USPD wie die KPD(S) begannen sich ab März 1919 in Form polemischer Angriffe gegenüber den Syndikalisten abzugrenzen. Im Juni 1919 rief die KPD(S)-Zentrale zu einem allgemeinen Ausschluß aller syndikalistischen Parteimitglieder auf.(13) Zu dieser Zeit wurde es zumindest regional als nicht ungewöhnlich angesehen, daß anscheinend Teile ganzer Ortsverbände in beiden Organisationen vertreten waren. In der Bremer KPD, in der aufgrund des breiten innerparteilichen Spektrums die Diskussionen besonders kontrovers verliefen, wurde die syndikalistische Fraktion erst im Juli 1919 ausgeschlossen.(14)

Trotz dieser Auseinandersetzungen gewann die 'Freie Vereinigung' weitere Anhänger und entwickelte sich Mitte 1919 mit 60 000 Mitgliedern zu einer Massenorganisation.(15) Diese rapide Aufwärtsbewegung setzte sich noch einige Zeit fort, so daß auf dem Gründungskongreß der FAUD(S) 109 Delegierte anwesend waren, die 111 675 Mitglieder vertraten.(16) Dieser '12. Syndikalisten-Kongreß', der vom 27. bis 30. Dezember 1919 in Berlin stattfand, knüpfte unmittelbar an die Vorkriegsgeschichte der FVdG an und sollte daher als Ausdruck einer Kontinuität verstanden werden.

[Fortsetzung Leseprobe: 3.2. Das anarchosyndikalistische Gewerkschaftsverständnis]


Anmerkungen

(1) Nach Ankündigungen und Berichten im 'Mitteilungsblatt der Geschäftskommission der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften' vom August 1914 bis Juni 1915 und im 'Rundschreiben an die Vorstände und Mitglieder aller der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften angeschlossenen Vereine' vom 15. Juni 1915 bis 15. Mai 1917, Nr. 1-47.

(2) 'Der Syndikalist', 1. Jg. (1918), Nr. 4.

(3) A. Graf, Thesen zur Dissertation: Anarchismus in der Weimarer Republik. Tendenzen, Organisationen, Personen, Diss. Phil., Bd. 2, Berlin 1990, S. 6.

(4) Siehe F. Held, Der Syndikalismus in Deutschland, staatswiss. Diss., München 1924, S. 135 f. Held belegt seine These mit einem Hinweis auf eine Trauerrede, die Rocker für standrechtlich erschossene Mitglieder der FAUD(S) in Sachsen hielt.

(5) H. M. Bock, , Syndikalismus und Linkskommunismus . . ., S. 105.

(6) Vgl. dazu auch: W. Thorpe, "Syndicalist Internationalism before World War II", in: Revolutionary Syndicalism. An International Perspective, Aldershot 1990, S. 241.

(7) Vgl. W. I. Lenin, Staat und Revolution, in: Ausgewählte Werke, Moskau 1985, S. 286-399. Zu einer deutlich antibolschewistischen Einstellung in der FAUD kam es erst nach der Teilnahme Augustin Souchys am 2. Komintern-Kongreß in Moskau, bei der er Gelegenheit hatte, u. a. mit Lenin und Kropotkin Gespräche zu führen. Der Bericht seiner Reise durch Sowjet-Rußland bewirkte unter den deutschen Anarchosyndikalisten eine gründliche Revidierung ihrer zunächst begeisterten Einstellung der russischen Revolution gegenüber. Siehe A. Souchy, Wie lebt der Arbeiter und Bauer in Rußland und in der Ukraine? Resultat einer Studienreise vom April bis Oktober 1920, Berlin o. J. (1920); erw. Reprint Berlin 1979. Die Verfolgung russischer Anarchisten und die Ereignisse in Kronstadt im Jahre 1921 markierten den Beginn des Antibolschewismus der FAUD.

(8) Karl Roche (1862-1931) kam vor dem Krieg als Angestellter des Bauarbeiterverbandes zur FVdG und war vor 1914 im 'Syndikalistischen Industrieverband' und nach 1919 auch zeitweise in der unionistischen AAU in Hamburg tätig. K. Roche trat bis zu seinem Tod in einer Vielzahl von Agitationsbroschüren und regelmäßigen Artikeln im 'Syndikalist' als einer der eifrigsten Propagandisten der FAUD hervor. Vgl. Nachruf auf Roche in: 'Der Syndikalist', 13. Jg. (1931), Nr. 2.

(9) K. Roche, Was wollen die Syndikalisten? Programm, Ziele und Wege der freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften, Berlin 1919, S. 5.

(10) Da Roche Ende 1919 zur Hamburger AAU wechselte, erscheint eine pragmatische Haltung unwahrscheinlich. Es muß vielmehr davon ausgegangen werden, daß sich Roche tatsächlich zeitweilig auf das unionistische Schema der Betriebsorganisation und die Idee einer proletarischen Rätediktatur umorientierte. Mitte der zwanziger Jahre trat Roche der FKAD und schließlich auch wieder der FAUD bei.

(11) In der Reformierungsphase können durchaus als pluralistisch zu bezeichnende Tendenzen in der FVdG festgestellt werden, die im 'Syndikalist' zum Ausdruck kamen. So wurden Informations- und Agitationsschriften der Individualanarchisten, der FKAD und von Franz Pfemfert (KPD(S), später KAPD u. AAUE) vertrieben. Neben abgedruckten Beiträgen von R. Luxemburg, K. Liebknecht und H. Vogeler (Siedlungsgemeinschaft 'Barkenhoff' in Worpswede) wurden u. a. über Pfemferts Verlag Lenins "Staat und Revolution" und Trotzkis "Der Krieg und die Internationale" angeboten. Die antiautoritär-rätekommunistische AAUE stand bis 1926 in engem Kontakt mit der FAUD.

(12) K. Roche, Was wollen die Syndikalisten?, S. 6.

(13) "An die Syndikalisten in der KPD!", abgedruckt in: H. M. Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus . . ., S. 359/360.

(14) Dazu detailliert: P. Kuckuk, Bremer Linksradikale bzw. Kommunisten von der Militärrevolte im November 1918 bis zum Kapp-Putsch im März 1920. Ihre Politik in der Hansestadt und in den Richtungskämpfen innerhalb der KPD. Diss. Phil. Hamburg 1970, S. 229-253. Hoffnungen auf eine Verständigung mit einer linken Abspaltung der KPD äußerte noch am 18. Dezember 1919 der Geschäftsführer der Bremer FVdG, Franz Martin, auf dem lokalen Vorbereitungstreffen zum 12. Kongreß der FVdG. Siehe: StAB 4,65/514 (Bl. 15).

(15) 'Der Syndikalist', 1. Jg. (1919), Nr. 36.

(16) 'Der Syndikalist', 2. Jg. (1920), Nr. 1. Eine genaue Auflistung findet sich in der Präsenzliste zum Protokoll des Kongresses, S. 96-100.


Auszug aus: Hartmut Rübner: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus. (c) Libertad Verlag Potsdam 1994. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich für EUR 25,00 unter ISBN-Nr.: 3-922226-21-3. [Zurück zur Inhaltsübersicht des Buches]