Auszug aus: Hartmut Rübner: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus. (c) Libertad Verlag Potsdam 1994. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich für EUR 25,00 unter ISBN-Nr.: 3-922226-21-3. [Zurück zur Inhaltsübersicht des Buches] 

Vorbemerkung

Das bis in die Gegenwart in der öffentlichen Meinung verbreitete Bild eines Anarchisten ist die bis vor die Jahrhundertwende zurückreichende Vorstellung von einem unkontrolliert agierenden Terroristen, dessen charakterliche Attribute die Eigenschaften des Psychopathen (oder milder ausgedrückt des Narren) und die eines Kriminellen in sich vereinigen. Besonders augenfällig wurde die Transformation dieser vorurteilsbehafteten Klassifizierungen in der unreflektierten Konstruktion und Gleichsetzung von Anarchismus und RAF-Terrorismus in den siebziger Jahren. Daß dieser Vergleich an der geschichtlichen Entwicklung der anarchistischen Bewegungen vorbeigeht, zeigt die Selbsteinschätzung der 'Roten Armee Fraktion', ihre ideologische Bezugnahme und ihr politischer Anspruch sowie dessen Umsetzung in Strategie und Praxis.

Orthodox-marxistische Interpretationen beschreiben den Anarchosyndikalismus als kleinbürgerliche Strömung innerhalb der Arbeiterklasse, dem nach der Herausbildung des modernen Kapitalismus allenfalls eine anachronistische Bedeutung zugemessen wird. Die nicht ökonomisch bedingten Kausalitäten sozialer Bewegungen verschwinden demzufolge in ihrer Bedeutung völlig oder geraten zu einem zu vernachlässigenden Faktor.

Für die liberalen Kritiker des Anarchismus, insbesondere Max Weber, war es hingegen der moralische Rigorismus einer individualistischen Gesinnungsethik, der diese politische Bewegung als eine »Kirche ohne Gott« erscheinen lassen konnte. Von dieser Seite wird die radikale Kritik an den bestehenden - auch demokratisch legitimierten - Herrschaftsverhältnissen in der Regel als nützliches moralisches Regulativ betrachtet, um darüber hinaus die radikal-utopischen Inhalte sozialistisch motivierter Sozialbewegungen in den Bereich paradiesischer Wunschprojektionen anzusiedeln. Der Anspruch einer objektiven Annäherung an das Thema Anarchosyndikalismus setzt deshalb zunächst einmal eine distanzierte Betrachtungs- und Vorgehensweise voraus. Denn die Wiederholung von überkommenen und sorgsam kultivierten Klischees, die sich zwischen den Extremen einer heroisierenden Mythologisierung und der diffamierenden Abwertung bewegen, soll nach Möglichkeit vermieden werden.
 
 
Treffen der FAUD (AS) in Berlin,  
Ende der 20er Jahre.

Daß es auch in Deutschland zur Herausbildung eines eigenständigen anarchosyndikalistischen Stranges in der Geschichte der Arbeiterbewegung kam, ist seit den sechziger Jahren in geringem Umfang dokumentiert worden. In der vorliegenden Arbeit werden diese Studien - die sich durch ihre unterschiedlichen Untersuchungskriterien in ideengeschichtliche und organisationssoziologische sowie in regionalbezogene sozialhistorische und sozialwissenschaftliche Ansätze unterscheiden lassen - berücksichtigt und durch weitere Quellenstudien ergänzt. Die Aufnahme der unterschiedlichen Forschungsansätze bietet in diesem Zusammenhang eine Möglichkeit, umfassende Rückschlüsse auf die Entstehungsbedingungen einer speziellen Ausprägung innerhalb der radikal-antiautoritären Arbeiterbewegung zu ziehen. Diese unterschiedlichen Strömungen, die sich in ihrem jeweiligen Verhältnis zur FAUD unterschieden, werden in ihren Berührungspunkten zum Anarchosyndikalismus ebenfalls dargestellt. Die Auswertung des vorliegenden Materials schließt sich also den bereits veröffentlichten Einzelstudien an; deshalb sollen bisher vernachlässigte Teilgebiete eingehender untersucht werden. Nachdem bezüglich des Anarchosyndikalismus die Sozialgeschichte der Handwerker (insbesonders die der Feilenhauer und Maurer) und der Bergleute auf Interesse stieß, bildet in dieser Arbeit die syndikalistische Seeleutebewegung einen thematischen Schwerpunkt.
 
 
Antikriegs-Demonstration der Anarchosyndikalisten am 1. August 1926 im Berliner Lustgarten.  
 
 
 
 

Die ideologischen Grundzüge der anarchistischen und anarchosyndikalistischen Theorie treten aufgrund der ausführlichen Rezeption in der Sekundärliteratur in den Hintergrund. Auf die für den Anarchosyndikalismus in Deutschland wichtige Literatur wird an den entsprechenden Stellen hingewiesen. Die spezifische Aufnahme und Verarbeitung der unterschiedlichen ideologischen Einflüsse in der Entwicklung der FAUD werden jedoch berücksichtigt.

Als Quellenmaterial wurden die vorliegenden Organe der anarchosyndikalistischen FAUD ausgewertet, wobei z. B. die Monatszeitschrift 'Die Internationale' ausführlich einbezogen wird. Zeitlich umspannt die Arbeit den seit den 1880er Jahren einsetzenden Emanzipationsprozeß der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsopposition, der sich spätestens nach dem Ersten Weltkrieg organisatorisch als ein unabhängiger Verband mit anarchosyndikalistischen Zielvorstellungen, unter der Bezeichnung 'Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD)', verselbständigt hatte. Die Zeit von 1918 bis 1933 stellt den eigentlichen Wirkungszeitraum der anarchosyndikalistischen Bewegung in der - allerdings oftmals eingeschränkten - Legalität dar. Durch die historische Konstellation bedingt, gelangte die FAUD für eine kurze Zeit besonders in Rheinland-Westfalen zu einigem Einfluß, der im Hinblick auf die Geschichte der Weimarer Republik nicht unterschätzt werden sollte. Ob mit der Herausbildung der Organisation bereits Ansätze eines anarchosyndikalistischen Gesellschaftsentwurfs verwirklicht wurden, bleibt eine Frage der Interpretation der zur Verfügung stehenden Materialien. Hierbei zeigt sich jedoch, daß es durch die regionale Autonomie der Ortsverbände und deren Meinungspluralität schwierig ist, generelle und allgemeingültige Aussagen zu den praktischen Belangen der Organisation zu treffen. Der innerorganisatorischen Praxis in den Entscheidungsfindungsprozessen, die sich in der FAUD fast ausschließlich in Diskursen auf der höheren Funktionärsebene entwickelten, wird in diesem Zusammenhang eine besondere Gewichtung beigemessen, und sie wird deshalb ausführlich wiedergegeben.

Der Verwirklichung einer anarchistischen Praxis kamen sicherlich die kulturellen Nebeninitiativen, die sich aus dem Rahmen der FAUD heraus verselbständigten, am nächsten. Der Versuch, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppierungen zu integrieren - und hierbei die Bedeutung des Konsumentenbereichs nicht zu vernachlässigen -, nahm vieles von den Ansätzen vorweg, die später in den »Neuen Sozialen Bewegungen« der Bundesrepublik unter anderen Begleitumständen zur Verwirklichung von ähnlichen - »basisdemokratischen« - Vorstellungen führten.

Letztendlich scheiterte die FAUD ebenso wie der Industrieunionismus an den pragmatischeren (parlamentarischen) »Institutionen« der deutschen Arbeiterbewegung - der KPD und der SPD -, zwischen denen sie sich als antiautoritäre Alternative nicht entfalten konnte. Die Geschichte der FAUD wird nur bis zu dem Zeitpunkt behandelt, als diese linksradikale Gewerkschaftsorganisation im Jahre 1933 durch die Nationalsozialisten zerschlagen wurde. Die illegale Tätigkeit der Anarchosyndikalisten, die erst 1937/38 nach einer Anzahl von Gerichtsverfahren (1) abbrach, wird nicht aufgearbeitet.

[Fortsetzung Leseprobe: 3. Die Entwicklung der FAUD: Der Anspruch einer Gesellschaftstransformation und die Realität der gewerkschaftlichen Praxis / 3. 1. Die Rekonstituierung der 'Freien Vereinigung']


Anmerkung

(1) Der sogenannte »Syndikalistenprozeß« in Hamm 1937 war mit über 100 verhafteten Frauen und Männern und 88 Verurteilungen der umfangreichste. Die erste Verurteilungswelle von Anarchosyndikalisten vor dem 'Volksgerichtshof' ist ausführlich in einer Studie von S. Wolf dargestellt worden. Siehe ders., "». . . bis die Bestie Kapitalismus niedergerungen und der Moloch Staat zertrümmert ist.« Der erste Prozeß des Volksgerichtshofs gegen die FAUD im Sommer 1936", in: AGWAB, Nr. 11, (1991). Über die regionalen Widerstandsgruppen der FAUD existieren bereits einige Darstellungen. Vgl. z. B. für Hessen: A. Ulrich, "Zum Widerstand der Freien Arbeiter-Union Deutschlands gegen den Nationalsozialismus. Ihr konspiratives Verbindungsnetz in Hessen und im Raum Mannheim/Ludwigshafen", in: 'Nassauische Annalen. Jahrbuch des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichte', Bd. 99 (1988). [Nachtrag d. Red. 1997: Siehe hierzu auch die jüngere Studie Rudolf Berner: Die Unsichtbare Front. Bericht über die illegale Arbeit in Deutschland (1937). Herausgegeben, annotiert und ergänzt durch eine Studie zu Widerstand und Exil deutscher Anarchisten und Anarchosyndikalisten (1933-1945) von Andreas G. Graf und Dieter Nelles. Libertad Verlag: Berlin/Köln, 1997 (= Archiv für Sozial- und Kulturgeschichte, Bd. VII).]


Auszug aus: Hartmut Rübner: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie zur Geschichte des Anarchosyndikalismus. (c) Libertad Verlag Potsdam 1994. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich für EUR 25,00 unter ISBN-Nr.: 3-922226-21-3. [Zurück zur Inhaltsübersicht des Buches]