Orthodox-marxistische Interpretationen beschreiben den Anarchosyndikalismus als kleinbürgerliche Strömung innerhalb der Arbeiterklasse, dem nach der Herausbildung des modernen Kapitalismus allenfalls eine anachronistische Bedeutung zugemessen wird. Die nicht ökonomisch bedingten Kausalitäten sozialer Bewegungen verschwinden demzufolge in ihrer Bedeutung völlig oder geraten zu einem zu vernachlässigenden Faktor.
Für die liberalen Kritiker des Anarchismus, insbesondere Max Weber,
war es hingegen der moralische Rigorismus einer individualistischen Gesinnungsethik,
der diese politische Bewegung als eine »Kirche ohne Gott« erscheinen
lassen konnte. Von dieser Seite wird die radikale Kritik an den bestehenden
- auch demokratisch legitimierten - Herrschaftsverhältnissen in der
Regel als nützliches moralisches Regulativ betrachtet, um darüber
hinaus die radikal-utopischen Inhalte sozialistisch motivierter Sozialbewegungen
in den Bereich paradiesischer Wunschprojektionen anzusiedeln. Der Anspruch
einer objektiven Annäherung an das Thema Anarchosyndikalismus setzt
deshalb zunächst einmal eine distanzierte Betrachtungs- und Vorgehensweise
voraus. Denn die Wiederholung von überkommenen und sorgsam kultivierten
Klischees, die sich zwischen den Extremen einer heroisierenden Mythologisierung
und der diffamierenden Abwertung bewegen, soll nach Möglichkeit vermieden
werden.
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Treffen
der FAUD (AS) in Berlin,
Ende der 20er Jahre. |
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Antikriegs-Demonstration
der Anarchosyndikalisten am 1. August 1926 im Berliner Lustgarten.
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Die ideologischen Grundzüge der anarchistischen und anarchosyndikalistischen Theorie treten aufgrund der ausführlichen Rezeption in der Sekundärliteratur in den Hintergrund. Auf die für den Anarchosyndikalismus in Deutschland wichtige Literatur wird an den entsprechenden Stellen hingewiesen. Die spezifische Aufnahme und Verarbeitung der unterschiedlichen ideologischen Einflüsse in der Entwicklung der FAUD werden jedoch berücksichtigt.
Als Quellenmaterial wurden die vorliegenden Organe der anarchosyndikalistischen FAUD ausgewertet, wobei z. B. die Monatszeitschrift 'Die Internationale' ausführlich einbezogen wird. Zeitlich umspannt die Arbeit den seit den 1880er Jahren einsetzenden Emanzipationsprozeß der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsopposition, der sich spätestens nach dem Ersten Weltkrieg organisatorisch als ein unabhängiger Verband mit anarchosyndikalistischen Zielvorstellungen, unter der Bezeichnung 'Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD)', verselbständigt hatte. Die Zeit von 1918 bis 1933 stellt den eigentlichen Wirkungszeitraum der anarchosyndikalistischen Bewegung in der - allerdings oftmals eingeschränkten - Legalität dar. Durch die historische Konstellation bedingt, gelangte die FAUD für eine kurze Zeit besonders in Rheinland-Westfalen zu einigem Einfluß, der im Hinblick auf die Geschichte der Weimarer Republik nicht unterschätzt werden sollte. Ob mit der Herausbildung der Organisation bereits Ansätze eines anarchosyndikalistischen Gesellschaftsentwurfs verwirklicht wurden, bleibt eine Frage der Interpretation der zur Verfügung stehenden Materialien. Hierbei zeigt sich jedoch, daß es durch die regionale Autonomie der Ortsverbände und deren Meinungspluralität schwierig ist, generelle und allgemeingültige Aussagen zu den praktischen Belangen der Organisation zu treffen. Der innerorganisatorischen Praxis in den Entscheidungsfindungsprozessen, die sich in der FAUD fast ausschließlich in Diskursen auf der höheren Funktionärsebene entwickelten, wird in diesem Zusammenhang eine besondere Gewichtung beigemessen, und sie wird deshalb ausführlich wiedergegeben.
Der Verwirklichung einer anarchistischen Praxis kamen sicherlich die kulturellen Nebeninitiativen, die sich aus dem Rahmen der FAUD heraus verselbständigten, am nächsten. Der Versuch, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppierungen zu integrieren - und hierbei die Bedeutung des Konsumentenbereichs nicht zu vernachlässigen -, nahm vieles von den Ansätzen vorweg, die später in den »Neuen Sozialen Bewegungen« der Bundesrepublik unter anderen Begleitumständen zur Verwirklichung von ähnlichen - »basisdemokratischen« - Vorstellungen führten.
Letztendlich scheiterte die FAUD ebenso wie der Industrieunionismus an den pragmatischeren (parlamentarischen) »Institutionen« der deutschen Arbeiterbewegung - der KPD und der SPD -, zwischen denen sie sich als antiautoritäre Alternative nicht entfalten konnte. Die Geschichte der FAUD wird nur bis zu dem Zeitpunkt behandelt, als diese linksradikale Gewerkschaftsorganisation im Jahre 1933 durch die Nationalsozialisten zerschlagen wurde. Die illegale Tätigkeit der Anarchosyndikalisten, die erst 1937/38 nach einer Anzahl von Gerichtsverfahren (1) abbrach, wird nicht aufgearbeitet.
[Fortsetzung Leseprobe: 3. Die Entwicklung der FAUD: Der Anspruch einer Gesellschaftstransformation und die Realität der gewerkschaftlichen Praxis / 3. 1. Die Rekonstituierung der 'Freien Vereinigung']
(1) Der sogenannte »Syndikalistenprozeß«
in Hamm 1937 war mit über 100 verhafteten Frauen und Männern
und 88 Verurteilungen der umfangreichste. Die erste Verurteilungswelle
von Anarchosyndikalisten vor dem 'Volksgerichtshof' ist ausführlich
in einer Studie von S. Wolf dargestellt worden. Siehe ders., "».
. . bis die Bestie Kapitalismus niedergerungen und der Moloch Staat zertrümmert
ist.« Der erste Prozeß des Volksgerichtshofs gegen die FAUD
im Sommer 1936", in: AGWAB, Nr. 11, (1991). Über die regionalen Widerstandsgruppen
der FAUD existieren bereits einige Darstellungen. Vgl. z. B. für Hessen:
A. Ulrich, "Zum Widerstand der Freien Arbeiter-Union Deutschlands gegen
den Nationalsozialismus. Ihr konspiratives Verbindungsnetz in Hessen und
im Raum Mannheim/Ludwigshafen", in: 'Nassauische Annalen. Jahrbuch des
Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichte', Bd. 99 (1988).
[Nachtrag d. Red. 1997: Siehe hierzu auch die jüngere
Studie Rudolf Berner: Die Unsichtbare Front. Bericht
über die illegale Arbeit in Deutschland (1937). Herausgegeben, annotiert
und ergänzt durch eine Studie zu Widerstand und Exil deutscher Anarchisten
und Anarchosyndikalisten (1933-1945) von Andreas G. Graf und Dieter Nelles.
Libertad Verlag: Berlin/Köln, 1997 (= Archiv für Sozial- und
Kulturgeschichte, Bd. VII).]